30.10.2022 – Äbeni Flue Nordwand (SS-, 50-65°)

Für Hochtouren ein schwieriger Sommer. Und für mich nahezu ein Totalausfall, nachdem ich nach einer halben Woche im Saastal im Juli mit Corona abbrechen musste und einige Wochen brauchte, um wieder leistungsfähig zu sein.

Vermutlich wäre es auch dabei geblieben. Inzwischen ist die Hauptsaison durch, die Hütten haben geschlossen und überall liest man von schwierigen oder tückischen Verhältnissen auf den stark in Mitleidenschaft gezogenen Gletschern. Zum Glück gibt es mit dem 01.11. an Allerheiligen aber einen Feiertag und damit den notwendigen Schubs, um nochmal ein vernünftiges Ziel ins Auge zu fassen. Alleine wäre ich wohl irgendwo im Allgäu gelandet, mit Henk als Tourenpartner ergeben sich da allerdings ganz andere Optionen.

In den Ostalpen scheint es noch ruhig zu sein. Die sonst zur Jahreszeit typischen Beiträge aus den Eiswänden fehlen. Der Oktober ist rekordwarm. Henk kennt sich hingegen speziell in den Westalpen sehr gut aus (und hat schon alle 82 4.000er erleben dürfen). Somit hat er auch einen spannenden Vorschlag parat, von dem ich zuvor noch nie gehört habe: Die Äbeni Flue oder Ebnefluh über die Nordwand von der Rottalhüte. Wenig überraschend auch dazu keine aktuellen Informationen. Trotz Internetzeitalter. Die Rottalhütte weist keine Buchungen auf (Belegungsanzeige im Buchungsportal) und generell gilt der Gletscher als spaltig und der Bergschrund mitunter als problematisch oder zumindest anspruchsvoll. Für die Tourenplanung sind die Webcams vom Schilthorn hilfreich. Dort kann man die Wand zumindest aus der Entfernung gut einsehen und bekommt ein Gefühl für die Schneelage. Und auch für den Zustand des Gletschers. Und der sah heuer tatsächlich auch aus großer Entfernung schon ziemlich zerschrunden aus. Ob der Zustieg zur Wand überhaupt machbar ist? Ungewiss.

Am Freitag nach Feierabend brechen wir vom Sauerland in Richtung Schweiz auf. Die Gedanken um den möglicherweise schwierigen Zustieg waren richtig. Allerdings schon früher als gedacht. Mit einem Plattfuß endet die Reise auf dem Standstreifen kurz vor Darmstadt. Ersatzreifen haben moderne Autos nicht mehr dabei, das Notfallkit mit Dichtmilch bringt nichts. Nach langem Warten auf den Abschleppdienst und der Gewissheit, dass niemand uns am Abend noch einen neuen Reifen aufziehen wird, finde ich mich allmählich damit ab, dass die Hochtourensaison dieses Jahr einfach nicht sein soll.

Meine Freundin kommt uns allerdings zur Rettung und bringt uns ihren Swift vorbei. Ohne Tempomat durch die Schweiz und nicht geblitzt werden. Monetär ebenfalls eine Herausforderung. 46 CHF Parkgebühr am Ortsende von Stechelberg und dann kann es am nächsten Morgen doch endlich losgehen.

1.800 Höhenmeter sind es auf nur etwa 6,5km. Angegeben ist der Hüttenzustieg mit 5,5 Stunden.

Irgendwann lichtet sich auch der dichte Wald und gibt den Berg auf den Talschluss frei. Generell ist auch die Anfahrt durch das Tal von Lauterbrunnen spannend. Eng eingeschnitten von steilen Felsflanken auch bekannt bei denjenigen, die den Schnellabstieg mit Schirm und ggf. Wingsuit angehen.

Beim Abzweig (links Silberhornhütte, rechts Rottalhütte) auf etwa 2.020m gibt es die (ich meine einzige) Möglichkeit zum Wasser auffüllen. Dafür direkt an der Quelle und mit Kelle zum Abschöpfen.

Bis dorthin sind tatsächlich auch noch wenige Wanderer und einige Gleitschirmpiloten mit großen Rucksäcken unterwegs. Die biegen allerdings zur Silberhornhütte ab und gleiten noch am selben Tag ins Tal.

Abzweig zur Silberhornhütte quert hier nach links oben in die Sonne.

In der Hütte hängt ein imposantes Bild einer gewaltigen Eislawine, die vor vielen Jahren von der Jungfrau kommend ins Tal donnerte und dabei 3 Personen auf dem Abstieg von der Rottalhütte unter sich begrub. Anschließend wurde die Wegführung umgelegt. Mit den schweren Rucksäcken geht es die südseitige, recht steile Rinne an Drahtseilen hinauf. Wirklich flach ist der gesamte Zustieg ohnehin nicht.

Allmählich kommen wir nicht nur der Hütte, sondern auch der Wand näher.

Etwas mehr Kosmetikschnee im unteren Bereich hätte es sein dürfen. Ansonsten macht der Anblick wirklich was her.

Speziell der Blick in die Nordwand, die als breite Eiswand mit Bollwerk beim Ausstieg und unzähligen Varianten beschrieben wird.

Angekommen auf der Rottalhütte. Auch wenn die Wand nix wird: Der Zustieg hat sich gelohnt. Imposanter Anblick von Äbeni Flue (rechts) und Gletscherhorn (links, noch viel wilder).

Davon abgesehen hat die Hütte, alles was man sich nur wünschen kann. Reichlich Geschirr und Besteck, Feuerholz, bei Bedarf Getränke, eine Wasserquelle wenige Meter neben der Hütte und sogar USB-Buchsen zum Nachladen.

Kein Vergleich zur üblichen Hochtouren-Hektik im Sommer. Generell ist die Hütte hier nur in der Hauptsaison an den Wochenenden bewartet. Wirklich großartig, was die Sektion Interlaken hier unterhält. 25CHF für die Übernachtung dazu mehr als fair.

Nachdem wir es uns schon mal gemütlich und warm gemacht haben schauen wir uns für den nächsten Tag den Weg zum Gletscher an. Es geht zunächst steil über die Moräne hinab in ein zurückgebliebenes Kraterfeld aus Eis und Geröll. Am Gletscher selbst schaut die Wand zwar schon deutlich flacher, als von der Hütte aus, aus, allerdings immer noch beeindruckend. Leider auch mit beeindruckend viel Fels im unteren Teil. Der Anblick „alter Zeiten“ kann da schon mal etwas traurig machen.

Übrigens: Auf der Hütte liegt auch ein sehr gutes Fernglas. Mit dem haben wir schon vorab nach einem möglichen Weg durchs Spaltenlaybrinth gesucht. Ganz links herum definitiv zu spaltig. Rechts schaut es besser aus. Wir planen es zeitlich so, dass wir mit einsetzender Dämmerung am Ende des rechten Felsriegels stehen. Komplett im Dunklen wäre das Durchkommen vermutlich schwierig. Danach einen Weg durch den Mittelteil finden und dann wohl ganz links außen am Bergschrund vorbei. Die Wand selbst schaut dann gut aus. Blankeis erst oben.

Ungewöhnlich spät starten wir um 05:15 Uhr an der Rottalhütte, nachdem wir in Ruhe alles aufgeräumt und verriegelt haben. Möglicherweise wird hier lange Zeit niemand mehr zu Gast sein.

Im unteren Teil ist der Gletscher (links der Felsen) bereits ordentlich steil, daher suchen wir uns den Weg zunächst ohne Seil.

Später dann angeseilt unterwegs finden wir einen gute Querung parallel zu den Längsspalten.

Und auch in der Nähe des Bergschrundes schaut es gut aus.

An der Zeit das zweite Eisgerät rauszuholen.

Von oben höre ich ein kurzes Fluchen. Wir stehen vor einer gut 10m hohen senkrechten, oben leicht überwächteten Eiswand. Der eigentliche Bergschrund. Von unsere ursprünglichen Plan (links herum) waren wir (oder ich) im Optimismus abgewichen. Sah ja auch in direkter Linie gut aus.

Rechts von der Eiswand mächtig zerschrunden und spaltig. Aber was ein geiles Motiv!

Und tatsächlich gibt es einen Durchschlupf über einen verkeilten Eisblock, der über der tiefen Spalte feststeckt, als hätte man ihn für uns dort platziert.

Schaut aus dieser Perspektive wieder nicht wild aus. Besonders lange hätte er dort bei warmen Temperaturen allerdings nicht mehr verharrt. An sich ist somit alleine der Zustieg zur Wand schon ein echtes Erlebnis. Wäre hier nun der Gipfel gewesen: Es hätte sich gelohnt. Bis hierhin sind wir 3:45h unterwegs.

Rückblickend kommt diese Linie unserem tatsächlichen Anstieg wohl grob am nächsten.

Auf etwas über 3.100m Höhe starten wir in die eigentliche Wand. Henk steigt zunächst 3 Seillängen durch das felsige Gelände vor und sichert mich an Firnankern nach. So ganz geheuer ist mir eingeschneiter Bröselfels leider noch immer nicht. Vor ein paar Jahren wäre hier noch Eis drunter gewesen.

Im Tal um oder über 20 Grad und Sonnenschein. Zum Glück stehen wir im Schneefegen der Nordwand. Eindrückliches „Mikroklima“. Bei Temperaturen nur etwas unter dem Gefrierpunkt passt das gut. Bei zweistelligen Minustemperaturen wirds so aber fix ungemütlich.

Nachdem wir die Felsen unter uns gelassen haben kommt das Seil zunächst noch mal weg. Mühsames Spuren, dafür aber in gutem Trittfirn. Später wird die Schneeauflage dünner, Eis gut erreichbar und da uns nichts hetzt, nutzen wir die Zeit etwas zum Graben und gehen mit weiten Abständen und an Rücklaufsperren weiter rauf.

Meditatives Stapfen durch den steilen Schnee. Wunderbar!

Allmählich dem steilen Eisbollwerk am Ausstieg entgegen.

Die Schneeauflage geht in Blankeis über. Das Bollwerk könnte sowohl links als auch rechts umgangen werden. Ich steuere auf die linke Seite zu. Um die 65° sollten es dort in etwa zwischenzeitlich gewesen sein.

Von unten schaut eine Wand ja doch meist recht überschaubar aus. In der Wand selbst werden die Dimensionen spürbar. Blick zurück.

Mit Weitwinkel fotografiert schauts hingegen direkt wieder angenehm flach aus.

Letzte Seillänge vor dem Ausstieg. Im Hintergrund schaut der Mönch hevor. Letztes Jahr sind wir dort im Oktober die Nollenroute rauf.

Oben: Kurzer Rückblick aufs Vorjahr am Nollen mit Eiger im Hintergrund. Gewisse Parallelen sind erkennbar.

Nach 9:30h am Gipfel der Äbeni Flue (3.962m) nur knapp unter der 4.000er Marke.

Links außerhalb des Bildes die Jungfrau. Mittig zentral der Mönch, links unterhalb davon das Jungfraujoch, rechts unterhalb die Mönchsjochhütte.

Die Jungfrau kann übrigens auch von der Rottalhütte aus über den Inneren Rottalgrat her angegangen werden.

Die Gipfelrast ist eher ungemütlich windig, die Hütte vermeintlich nicht mehr weit entfernt. Weite Gletscherflächen. Alles unverspurt, hier ist schon lange Zeit niemand mehr unterwegs gewesen. Zu dem Bild schickt mir ein Kumpel sein Kommentar „Sieht tränenreich aus“. Recht hat er. Wir haben schließlich keine Ski dabei 😉

Und wieder geht es langsam und elendig flach, dafür wieder meditativ in Richtung Hollandiahütte, die ja eigentlich gleich ums Eck kommen müsste.

Nebenan kurz der Blick zur Haslerrippe aufs Aletschhorn, die für den Dienstag geplant ist.

Abendstimmung am Gletscher. Nur selten ist man zu diesem Zeitpunkt noch unterwegs. Es ist allerdings fast November, die Tage entsprechend kurz und tageszeitliche Erwärmung kein Problem mehr. In diesem Moment bin ich sehr dankbar dafür, solche Augenblicke erleben zu dürfen.

So richtig um die Ecke ist die Hütte ohne Ski dann doch nicht. Und zum Erstaunen von Henk hat es hier im Vergleich zu früher auch einige große Spalten, über die wir aber auf Anhieb den richtigen Weg finden. Mit Stirnlampe die Tour gestartet und mit Stirnlampe beendet. Tag voll genutzt!

Und so landen wir nach 12:40h glücklich an der winterlichen Hollandiahütte. Der Eintritt bleibt uns aber zunächst verwehrt. Da es ungewiss war, ob wir über die Äbeni Flue rüberkommen haben wir nicht vorab online reserviert. Ein Zahlenschloss versperrt uns den Weg. Auf der Hütte hat es allerdings 5G-Netz und die Hütenwirtin ist schnell erreicht. Sie weist uns noch mal darauf hin, dass wir dann aber auch zahlen müssten. Schade, dass dies offenbar nicht von jedem als Selbstverständlichkeit angesehen wird und ein Zahlenschlos selbst an so abgelegener Ecke notwendig ist. Unsere Begründung zum Verzicht auf die Reservation kann sie aber wohl gut nachvollziehen und wir beginnen zügig mit der Schneeschmelze über dem warmen Ofen.

Fazit:

Vermutlich macht es die vorherige Ungewissheit, ob die Tour nun klappt oder nicht, im Endeffekt zu einem intensiveren Erlebnis, als wenn man keinerlei Zweifel hat. Laut Hüttenbuch sind zuletzt am 14.05. Bergsteiger von der Rottalhütte zur Äbeni Flue aufgebrochen. Anschließend folgte ein rekordwarmer Sommer. Im Herbst war wohl noch niemand so optimistisch wie wir und daher waren wir mit ziemlicher Sicherheit die ersten seit knapp einem halben Jahr in der Wand. Die Verhältnisse in der Wand selbst waren gut. Die ausapernden Felsriegel werden es in Zukunft nicht einfacher machen und der Gletscher war sicher auch schon einfacher und schneller zu überqueren. Mir selbst bleibt die Tour lange Zeit in Erinnerung. Gemütliche Selbstversorgerhütte, spannender Gletscheranstieg, winterliches Schneefegen, meditatives Schneestapfen und oben raus dann auch noch anstrengedes Blankeis in großer Höhe. Dazu die bewegende Stimmung ganz alleine auf dem weiten Eismeer im Abstieg. Von solchen Tagen träume ich oft und lange!

Tourdaten (gemäß GPS-Messung):

Distanz: 6,56km Zustieg und 5,09km Gipfeltag

Höhenmeter: 1.815hm Zustieg und 1.307hm Gipfeltag

Strava: https://www.strava.com/activities/8045820433 und https://www.strava.com/activities/8045828513

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